Interview mit Frau GU zum Thema Depressionen
Depressionen haben zugenommen – wie schätzen Sie diese Entwicklung aus Ihrer Sicht ein?
Das kann ich bestätigen. Gemäss WHO leiden ungefähr ein Siebentel aller Menschen einmal in ihrem Leben an depressiven Symptomen. In der Schweiz gehört fast ein Viertel der Bevölkerung zur Risikogruppe. Depressionen äussern sich in fünf typischen Symptomen:
- Antriebslosigkeit, Lustlosigkeit
- Kognitive Einschränkungen wie beispielsweise Konzentrationsstörungen oder Vergesslichkeit
- Veränderungen der Persönlichkeit
- Traurigkeit, Hoffnungslosigkeit, geringer Selbstwert, Schuldgefühle, Mangel an Interesse
- Körperliche Beschwerden wie Rücken- oder Muskelschmerzen ohne organische Ursachen
Eine Diagnose setzt voraus, dass mindestens zwei dieser Symptome über mindestens zwei Wochen bestehen. Zu den Hauptsymptomen gehören Niedergeschlagenheit, Interessenverlust, Freudlosigkeit und Energiemangel.
Wie betrachten Sie Depressionen in der Traditionellen Chinesischen Medizin?
In der TCM gibt es drei Hauptursachen für Depressionen: genetische Veranlagung, körperliche Zustände und psychische Ursachen, wie schwierige Lebensumstände. Wir unterscheiden zwischen sechs Ursachen für eine Depression, anhand derer wir auch die Diagnose stellen:
- Leber-Qi-Stau durch unterdrückte Emotionen wie Zorn
- Leber-Qi-Stau mit Feuer führt zu innerer Hitze
- Blockade der Milz-Energie durch langanhaltenden Leber-Qi-Stau und Schleimbildung
- Blutmangel, oft verursacht durch Angstzustände
- Herz-Blutmangel kombiniert mit Milz-Energie-Mangel
- Yin-Mangel, vor allem bei Leber und Nieren
Diese Ursachen zeigen sich in verschiedenen Symptomen wie Reizbarkeit, Traurigkeit oder Stimmungsschwankungen. Je nach Ursache äussern sich die Symptome unterschiedlich.
Wie behandeln Sie, wenn jemand mit diesen Symptomen zu Ihnen kommt?
Wir arbeiten daran, die blockierte Energie wieder in Fluss zu bringen, meist durch Akupunktur an den betroffenen Meridianen. Je nach Ursache arbeiten wir mit spezifischen Punkten, etwa auf dem Leber-Meridian bei Leber-Qi-Stau. Oft behandeln wir dabei Punkte am Körper, die in der Schulmedizin dem Verlauf des vegetativen Nervensystems entsprechen. Da sich Depressionen und andere Krankheiten wie Bluthochdruck oft dieselbe Ursache teilen, kann die Behandlung ähnlich sein.
Auch die Ohrakupunktur ist eine bewährte Methode, da viele Organpunkte dort zusammenlaufen. Zudem setzen wir Kräutermischungen ein, die individuell auf die Ursache abgestimmt sind.
Kann man auch selbst etwas tun, wenn man betroffen ist?
Ja, Meditation und Entspannungsmethoden wie Qi-Gong helfen. Auch die Ernährung spielt eine Rolle. Bestimmte Lebensmittel wie Blaubeeren, Rosenknospen-Tee, Hyazyinthen-Blüten, Lilien-Knospen oder Goji-Beeren wirken unterstützend. Diese Massnahmen sind besonders hilfreich bei leichten Symptomen, ersetzen aber keine ärztliche Behandlung bei schweren Depressionen.
Prof. Hongwei GUMindestens so wichtig für eine Genesung sind begleitende Gespräche, sei es in der Psychotherapie oder in der TCM, wo wir uns viel Zeit für unsere Patienten nehmen.
In der westlichen Schulmedizin setz man zur Behandlung von Depressionen in erster Linie auf eine medikamentöse Behandlung mit Antidepressiva und auf Psychotherapie. Wie ordnen Sie das ein?
Nach den schulmedizinischen Forschungen hängen Depressionen wahrscheinlich mit der Veränderung der Konzentration von hauptsächlich drei biochemischen Substanzen (Serotonin, Noradrenalin und Dopamin) im Gehirn zusammen. Viele der zur Behandlung von Depression eingesetzten Medikamente entfalten ihre Wirkung, indem sie dabei helfen, die Konzentrationen dieser biochemischen Substanzen im Gehirn auf ein normales Niveau zu bringen.
Eine weitere biochemische Substanz, die eine Rolle bei Depressionen spielen kann, ist Cortisol – das „Stresshormon“. Durch die erhöhte Ausschüttung von Glucocorticoiden bei Stress kann der Hippocampus, die empfindliche Region des Gehirns, selbst geschädigt werden. MRT-Untersuchungen haben gezeigt, dass das Volumen des Hippocampus bei Depressionen meistens reduziert ist.
Wenn man diese Tatsachen berücksichtigt, können Antidepressiva kurzfristig sicherlich helfen. Auf Dauer sehe ich sie kritisch, da sie oft Nebenwirkungen haben. Als alleinige Therapie reichen Antidepressiva meiner Meinung nach nicht aus. Mindestens so wichtig für eine Genesung sind begleitende Gespräche, sei es in der Psychotherapie oder in der TCM, wo wir uns viel Zeit für unsere Patienten nehmen.
Wie stelle ich fest, ob ich einfach nur traurig bin oder tatsächlich an einer Depression leide?
Traurigkeit ist eine normale Emotion, die wir alle erleben. Eine Depression hingegen ist eine Erkrankung, die das gesamte Verhalten beeinflusst. Sie hält über Wochen, Monate oder Jahre an, ohne dass ein klarer Auslöser vorliegt. Wenn die Traurigkeit anhaltend ist oder unverhältnismässig stark auftritt, kann eine Depression dahinterstecken. Traurigkeit verschwindet normalerweise, wenn der auslösende Grund beseitigt ist – bei Depressionen bleibt das Gefühl jedoch bestehen.
Zur Gesprächspartnerin
Prof. Hongwei GU ist eine langjährige TCM-Therapeutin mit über 25 Jahren Erfahrung als praktizierende Ärztin, Chefärztin, Professorin und eidg. diplomierte Naturheilpraktikerin Traditionelle Chinesische Medizin (TCM). Sie verfügt über einen Masterabschluss und hat eine achtjährige Universitätsausbildung zur Ärztin für Traditionelle Chinesische Medizin in China absolviert. Neben ihrem hohen Spezialisierungsgrad und ihrem grossen Fachwissen zeichnet sich Hongwei GU auch über viel Einfühlungsvermögen und ein gutes Gespür für ihre Patientinnen aus.